News | 29 April 2022

„Es stehen längst noch nicht alle Signale auf ‚grün‘“

Der historische Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts hat die politischen Weichen in Deutschland neu gestellt. Auch ein Jahr später gibt es noch viel zu tun.
Bild Verfassungsgericht

Vor einem Jahr, am 29. April 2021, gab das Bundesverfassungsgericht einen bahnbrechenden Beschluss bekannt: Klimaschutz hat Verfassungsrang. Auslöser der Entscheidung waren mehre Klimaklagen, darunter eine Verfassungsbeschwerde von neun jungen Menschen, die auf ihr Recht auf Zukunft geklagt hatten. Das Gericht gab den Jugendlichen Recht und erklärte das damalige Klimaschutzgesetz als teilweise verfassungswidrig.

Germanwatch hat die Verfassungsbeschwerde der Jugendlichen unterstützt. Zusammen mit Christoph Bals, dem Politischen Geschäftsführer, blicken wir auf die historische Entscheidung und das erste Jahr der politischen Umsetzung zurück.

Das Gespräch führte Dr. Marlene Becker, Referentin für Klimaklage-Kommunikation bei Germanwatch.

Becker: Du hast damals den Beschluss als historisch bezeichnet – warum?

Bals: Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist eine notwendige Neubestimmung des Freiheitsbegriffs in Zeiten der Klimakrise. Der Beschluss drückt aus, dass ohne massiven Klimaschutz heute der Staat seiner Verpflichtung nicht gerecht wird, die Freiheitschancen der jungen Generation auch für die Zukunft zu schützen. Der Gesetzgeber muss die Freiheitschancen schonend und gleichmäßig über die Zeit verteilen. Das ist schon sehr bahnbrechend.

Zudem erhebt das Urteil die Temperaturziele des Pariser Klimaabkommens und das Erreichen von Klimaneutralität in Verfassungsrang: Artikel 20a des Grundgesetzes, der – so wörtlich – „in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere“ schützt, bekommt Zähne – er wird zum Prüfmaßstab staatlichen Handelns und auch einklagbar.

Becker: Was hat sich dadurch konkret verändert?

Bals: Die Bundesregierung kann also jetzt nicht mehr wie bisher nur rhetorisch auf das 1,5-Grad-Ziel verweisen. Das ist ganz zentral, denn wir sind jetzt in der Dekade der Umsetzung, wo wir das Tempo im Klimaschutz verdrei- bis versechsfachen müssen, um zur Gefahrenabwehr auf einem 1,5-Grad-Pfad bleiben zu können.

Becker: Wie bewertest du ein Jahr nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die politische Umsetzung des Beschlusses?

Bals: Im Juni 2021 hat der Bundestag als Reaktion auf den Beschluss ein neues Klimaschutzgesetz verabschiedet. Es war toll zu sehen, dass Bundesregierung und Bundestag das Klimaschutzgesetz parteiübergreifend unterstützt und in einem vorher unvorstellbaren Tempo überarbeitet haben.
So wurde das Klimaziel für 2030 auf mindestens 65 Prozent erhöht, es wurde erstmals ein Minderungsziel von 88 Prozent für das Jahr 2040 definiert und das Erreichen der Klimaneutralität von 2050 auf 2045 vorgezogen. Mit der Einteilung der CO2-Restemissionsmengen über die Jahre bis 2045 hat der Gesetzgeber ein Restbudget für Deutschland – wieviel darf noch emittiert werden – festgelegt und in dem Sinne eine Verteilung der Freiheitsrechte über die Zeit vorgenommen. Das sind große Schritte in die richtige Richtung, die vor dem Beschluss des Gerichts politisch undenkbar waren.

Becker: Aber die Arbeit ist damit noch nicht getan, oder?

Bals: So ist es. Auch die ambitionierteren Klimaziele bringen Deutschland noch nicht auf einen Kurs, der kompatibel mit dem 1,5-Grad-Limit und der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist. Die Deutsche Umwelthilfe hat deshalb eine neue Verfassungsbeschwerde eingereicht. Germanwatch setzt im Moment eher darauf, dass Deutschland durch Klimapartnerschaften gemeinsam mit ärmeren Ländern auf einen 1,5-Grad-Pfad kommt. Das Bundesverfassungsgericht verlangt internationale Kooperation für globalen Klimaschutz. Das geht nicht ohne ausreichende Finanzmittel, aber dazu hat die Bundesregierung im Haushaltsentwurf nicht das notwendige Geld eingestellt.

Becker: Also müssen die Ziele noch nachgebessert werden. Ist denn zumindest die Umsetzung der bislang festgelegten Ziele gesichert?

Bals: Nein, trotz der tollen Beschleunigung für den Ausbau Erneuerbarer Energien, die im Frühjahrspaket angekündigt, allerdings noch nicht beschlossen ist. Selbst wenn das gelingt: Die Ziele insbesondere im Gebäude-, Verkehrs- und Landwirtschaftsbereich sind noch nicht ausreichend in konkrete Maßnahmen umgesetzt. Auch dazu ist schon eine Verbandsklage der Deutschen Umwelthilfe vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg anhängig.

Becker: Wie könnte denn das Klimaschutzgesetz die Umsetzung besser sicherstellen?

Bals: Bisher gilt: Wird ein Klimaziel nicht erreicht, dann müssen die zu viel freigesetzten Emissionen im nächsten Jahr zusätzlich zum festgelegten Ziel eingespart werden, da es ja auf die eingesparte Gesamtmenge ankommt. Aber wenn das dann auch nicht gelingt, dann darf es wieder verschoben werden. Das Problem wird – wir sehen das in den beiden letzten Jahren – immer größer und einfach weiter in die Zukunft geschoben. Die Richter:innen nannten dies einen „Klimaschutz ins Blaue hinein“. Genau diesem Verschiebbahnhof zu Lasten der jungen Generation wollte das Bundesverfassungsgericht einen Hebel vorschieben. Wir überlegen, dies in einer Klage vor dem Bundesverwaltungsgericht zum Thema zu machen. Denn die Bundesregierung ist auch verpflichtet, die Jahresemissionsmengen einzuhalten und, falls nötig, die zu viel freigesetzten Mengen an Treibhausgase sehr zeitnah zusätzlich zu reduzieren.

Becker: Wie müsste die Bundesregierung jetzt den Klimaschutz voranbringen?

Bals: Der gerade vorgelegte Bericht des Weltklimarats IPCC zeigt drastisch: Die Emissionen müssen in diesem Jahrzehnt weltweit um etwa die Hälfte sinken. Nur dann könne das 1,5-Grad-Limit ohne zeitweises Überschreiten noch eingehalten werden. Das könne nur gelingen, wenn die Investitionen in Klimaschutz in dieser Dekade gegenüber der letzten weltweit um das Drei- bis Sechsfache steigen müssen.

Nach der völkerrechtswidrigen Invasion Russlands in die Ukraine ist es wichtiger denn je, wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert, auch die internationale Kooperation für den globalen Klimaschutz voranzubringen. Aktuell sehen wir, dass vor allem kriegsbedingt die Kosten von Gas und Öl stark gestiegen sind. Es ist ganz zentral, dass deshalb nun nicht etwa in Kohle investiert wird, sondern die Investitionen in Energieeffizienz und Erneuerbare, die nun noch deutlich wettbewerbsfähiger geworden sind, massiv ausgebaut werden.

Becker: Wie kann die Politik den Zuwachs dieser Investitionen beschleunigen?

Bals: Dazu brauchen wir mehr Energiewendepartnerschaften der großen Industriestaaten mit Schwellen- und Entwicklungsländern. Deutschland kann hier – gerade im Rahmen der G7-Präsidentschaft – seiner internationalen Verantwortung gerecht werden und eine wichtige Rolle spielen. Die internationalen Klimaziele wären nicht mehr zu erreichen, wenn jetzt durch die viel teureren Gaspreise international viel in Kohle investiert würde. Auch müssen die großen Industrieländer der G7 nun endlich den Knoten durchschlagen und wirkungsvolle Instrumente sowie ausreichend Geld auf den Weg bringen, um insbesondere der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung dabei zu helfen, sich an die Folgen der Klimakrise anzupassen und nicht mehr vermeidbare Schäden zu bewältigen.

Becker: Wie lautet abschließend Dein Resümee ein Jahr nach dem historischen Klimabeschluss?

Bals: Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hat die Weichen für die Klimapolitik in Deutschland umgestellt, die Richtungssicherheit für die Politik ist erhöht. Aber auf den neuen Zugstrecken stehen längst noch nicht alle Signale auf „grün“. Die Instrumente für die Umsetzung – CO2-Preis, Standards, finanzielle Anreize – sind oft national, in der EU und international noch nicht scharf gestellt.

Angesichts des Kriegs in der Ukraine gibt es nun auch sicherheits- und geopolitische Gründe, nicht nur die Weichen umzustellen, sondern auch die Signale auf grün zu stellen. Es gilt, sowohl die notwendigen Investitionen für Energieeffizienz, Erneuerbare und Biodiversität als auch eine Kultur des guten Lebens voranzubringen, die erkennt, dass immer mehr Energie, Rohstoffe oder Fleisch den Wohlstand nicht steigern, sondern untergraben.