Blogpost | 21/12/2015 - 09:08

Fluchtursachen angehen und die Chancen von Migration für den Wandel nutzen

Blog-Beitrag von Nicole Bosquet und Alexander Reif, Dezember 2015
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Das Jahr 2015 war und ist ein Jahr in dem sich die Menschen in Europa so intensiv wie lange nicht mehr, mit Flucht- und Migrationsbewegungen auseinander setzen mussten. Dem UNHCR nach, waren Ende 2014 weltweit etwa 59,5 Mio. Menschen auf der Flucht, die meisten davon als Binnenvertriebene in ihrem eigenen Land. Dies ist die höchste Anzahl an Flüchtlingen, Asylsuchenden und Binnenvertriebenen seit dem zweiten Weltkrieg. Das Bundesamt für Migration und Flucht (BAMF) hat für das Jahr 2015 insgesamt 476.649 Asylanträge für Deutschland entgegen genommen - 441.899 davon Erstanträge. Im Vergleich zum Jahr 2014 war das eine Steigerung von 135,0 %  (Stand: Dezember 2015).

Die Fluchtursachen sind sehr unterschiedlich und beinhalten immer mehrere Dimensionen; mehrere Ursachen können sich über einen längeren Zeitraum entwickeln und überlagern. Nicht nur Krieg, soziale Unruhen, Verfolgung und Diskriminierung und ihre Hintergründe sondern auch die Bedrohung bzw. Vernichtung von Lebensräumen durch die Auswirkungen des Klimawandels, fehlende Ernährungssicherung, die Ausbeute von Ländern und Menschen durch Unternehmen, verschärfen krisenhafte Situationen.Der Verlust von Lebensgrundlagen wird auch in Zukunft immer mehr Menschen dazu zwingen ihre Heimat langfristig zu verlassen. Die derzeitigen medialen, politischen und öffentlichen Debatten adressieren in erster Linie die massiven Bewältigungsanstrengungen Europas, Deutschlands, der Länder und Kommunen für die Erstversorgung der Geflüchteten und ihre Integration in die Gesellschaft. Zweifelsfrei sind dies dringende und wichtige Herausforderungen, die auch in Zukunft noch stärker ausgebaut werden müssen. Es erklärt jedoch nicht, weshalb eine nachdrückliche Analyse der Fluchtursachen und ihrer Verknüpfungen mit den globalen Krisen, die mit ressourcenintensiven Konsum- und Produktionsmustern zu tun haben, ein Randphänomen bleibt. Notwendig sind ernstgemeinte, kontroverse Diskussionen über die Bekämpfung anhaltender und zukünftiger Fluchtursachen und Krisenverstärker, sodass Menschen erst gar nicht in die bedrohliche und oft sehr gefährliche Situation geraten, aus ihrer Heimat fliehen zu müssen. Europa und der globale Norden müssen sich die Frage stellen, inwiefern die negativen Konsequenzen der Globalisierung und ein ressourcen-intensiver Produktions- und Konsumstil, die Lebensgrundlagen von Menschen im globalen Süden gefährden und zu aktuellen und vor allem zukünftigen Fluchtursachen beitragen. Extreme Wetterverhältnisse, Dürren, Ernteausfälle, die Zerstörung von lokalen Märkten durch subventionierte Exportgüter aus dem globalen Norden und der Abbau von Rohstoffen, um nur einige Krisenverstärker zu nennen, verschärfen zum Teil bestehende soziale Spannungen. Der globale Norden muss Verantwortung für die Konsequenzen dieser Lebensweise übernehmen. Es gilt eine ambitioniertere Nachhaltigkeitsdebatte um die Ursachen aller Formen von gezwungener Migration und Flucht zu ergänzen und daraus rasch Konsequenzen zu ziehen.

Das Jahr 2015 bleibt aber nicht nur aufgrund der derzeitigen Flüchtlingssituation in Erinnerung. Es ist auch das Jahr in dem die Agenda 2030 mit globalen Nachhaltigkeitszielen, den sog. Sustainable Development Goals (SDG), beschlossen wurden. Die SDG sollen die Armut auf der Welt beseitigen, den Planeten sowie Ökosysteme schützen und Wohlstand für alle ermöglichen. Die Agenda 2030 ist ein Aktionsplan, um Menschen, den Planeten und Wohlstand in Einklang zu bringen. Hier gilt es Menschenrechte und existenzielle Bedürfnisse wie das Recht auf Nahrung, Bildung und den Zugang zu erneuerbarer Energie für alle Menschen zu ermöglichen und gleichzeitig die natürlichen Grenzen unseres Planeten einzuhalten. Auch Frieden und Freiheit sind Teil der Agenda. Alle Staaten müssen ihren Beitrag leisten, damit diese Ziele erreicht werden können.

Trotz der aktuellen Situation von Geflüchteten und Menschen, die sich gezwungen sehen ihren Wohnort zu verlassen, tauchen diese Menschen und das Problem von gezwungener Migration in den SDG kaum auf. Die Bedürfnisse von Migranten werden lediglich bei dem Schutz von Arbeitsrechten und im Kontext ihrer Rücküberweisungen in die Heimatregionen berücksichtigt. Treiber für Migration und Fluchtursachen werden kaum bis gar nicht mit den SDG verknüpft. Migration ist eine Form der Anpassung an neue Lebensumstände, an gesellschaftliche Veränderungen, Umweltbedingungen und oft eine (Über-) Lebensstrategie. Sie bietet auch große Chancen für die Herkunfts- und Zielregionen und ihre Gesellschaften. Migration und der damit verbundene soziale, kulturelle und ökonomische Austausch war so schon immer ein entscheidender Anstoß für Veränderungsprozesse und für Fortschritt. Auch heute wissen wir, dass wir rasch und tiefgreifende Veränderungsprozesse in Gang setzen müssen, um unsere Lebens- und Wirtschaftsmodelle so zu verändern, dass sie weltweit weder Menschenrechte noch die Grenzen des Planeten missachten und verletzen. Für diesen Weg zu einer Großen Transformation in Richtung Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit könnten MigrantInnen und Geflüchtete aus aller Welt einen wichtigen Anstoß geben. Als BotschafterInnen der weltweiten, menschengemachten Probleme und als entsprechende ExpertInnen und ErfahrungsträgerInnen dieser Phänomene. Die mangelhafte Beachtung von Migration und Flucht in den Nachhaltigkeitsagenden, wie der Agenda 2030, ist eine vertane Chance und muss dringend in den Nachfolgeprozessen, besonders auch auf nationaler Ebene, korrigiert werden, z.B. bei der Fortschreibung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Nicht durch das Umschreiben dieser Agenden, sondern durch ernsthafte Debatten und Lösungsvorschläge, die MigrantInnen und Geflüchte und ihre Perspektiven stärker in den Fokus rücken. Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) kann hier eine entscheidende Rolle spielen, um Flucht und Migration stärker mit unserer Lebens- und Wirtschaftsweise zu verknüpfen und entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen einzufordern. Es gilt gemeinsam mit MigrantInnen die oben genannten Zusammenhänge zu analysieren und sich gemeinsam für eine zukunftsfähige Welt zu engagieren und zu organisieren, in der Lebens- und Wirtschaftsmodelle niemanden mehr dazu zwingen, die eigene Heimat zu verlassen.


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