Blogpost | 13.03.2024

Mehrwert für Menschen, Demokratie und Klima

Wärme, Wind und Sonne beflügeln eine ländliche Region in Sachsen-Anhalt
Windräder stehen hinter einem See

Blick auf einen Windpark im Südlichen Anhalt. 

Kann der transformative Umbau der Energieversorgung Richtung 100 % Erneuerbare Energien auch im ländlichen Raum in Ostdeutschland Perspektiven für gesellschaftliche und wirtschaftliche Teilhabe schaffen? Kann dadurch sogar eine Stimmung entstehen, die die Demokratie in der Region stabilisiert? Christoph und Christiane Bals machen sich auf Spurensuche in der Stadt Südliches Anhalt. Hier besuchen sie die Renergiewerke Fuhne, Gesellschaft der „GP JOULE Gruppe“, und den Ortsbürgermeister Thorsten Breitschuh.

Sachsen-Anhalt: flache Felder, Blicke bis zum Horizont, weiter, blauer Himmel wölbt sich über die Ortschaften, durch die wir unterwegs sind. In der Kleinstadt Raguhn-Jeßnitz, im Landkreis Anhalt-Bitterfeld, gewann Anfang Juli 2023 die AfD mit Hannes Loth erstmals in Sachsen-Anhalt eine Wahl. Er ist seitdem hauptamtlicher Bürgermeister. Im selben Landkreis liegt auch die Stadt Südliches Anhalt mit insgesamt 13.200 hier lebenden Menschen, vor etwa 15 Jahren aus 24 Ortschaften entstanden. Hier gewann Thomas Schneider (unabhängig) die Bürgermeisterwahl im September 2023 bereits im ersten Wahlgang mit 51 % und deklassierte die anderen Kandidaten, Sven Meyer (Freie Wähler) mit 28,5 % und Matthias Schütz (Linke) mit 20,4 %. 

Was uns fasziniert: Für Bürgermeister Schneider war das zentrale Thema im Wahlkampf der Ausbau von Erneuerbarem Strom und Erneuerbarer Wärme für alle Ortsteile. Stärker als bisher soll im Südlichen Anhalt und in zwei Nachbargemeinden die Wärme- und Stromversorgung nun im Sinne der Menschen vor Ort organisiert werden. Es gehe darum, aus der Notwendigkeit des Ausbaus von Wind und Sonne „eine Nützlichkeit zu machen“.  Im April 2023 erklärte Schneider in einem Beitrag des MDR: „Bisher ist es so, dass die Flächen oder die Anlagen entstanden sind, ohne dass es einen Mehrwert für die Bürger gegeben hat.“ Jetzt gebe es aber die Chance, hier eine Teilhabe zu erreichen. Das wollten wir uns genauer anschauen.

Messlatte für Erfolg: wirtschaftliche und gesellschaftliche Teilhabe

Vor uns steht Thorsten Breitschuh. Er unterstützt das „Projekt Fuhne“. Er ist parteilos, sitzt für die „Fraktion der Ortsbürgermeister / CDU“ im Rat der Stadt Südliches Anhalt und ist gleichzeitig Ortsbürgermeister des eingemeindeten Dorfes Werdershausen. Als praktizierender Landwirt weiß er, wie die Region schon jetzt vom Klimawandel betroffen ist. „Der Klimawandel ist in Sachsen-Anhalt präsent geworden und durch Sturzfluten, Schlammlawinen, Hitzewellen, Dürren und Stürme ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangt“, schreibt auch die Landesregierung von Sachsen-Anhalt. 

Breitschuh hat sich intensiv mit den Möglichkeiten des Ausbaus von Erneuerbaren Energien beschäftigt und berät in der Region verschiedene Biogasanlagen. Ihn ärgert, dass der bisherige Ausbau der Erneuerbaren die Hoffnungen vieler Menschen vor Ort enttäuscht habe: „Was ist uns alles versprochen worden, als es um die Nutzung der dafür notwendigen Fläche ging. Doch die Wertschöpfung der vier Windparks landete ganz überwiegend bei den durchweg nicht ortsansässigen Investoren. In der Gegend blieb kaum etwas.“ Bei den Verhandlungen um das neue Projekt Fuhne hat er zusammen mit dem Stadtrat und der Stadtverwaltung stark darauf geachtet, dass sich diese Fehler nicht wiederholen.

Thorsten Breitschuh steht vor einem Bildschirm und erklärt die Energiewende im Südlichen Anhalt

Ortsbürgermeister Thorsten Breitschuh erklärt das Modell des integrierten Energiesystems. 

Die Stadt Südliches Anhalt fasste 2022 einen Grundsatzbeschluss zugunsten des „integrierten Energiesystems“ und fragte bei den Nachbarkommunen an, wer mitmachen wolle. Petersberg und Zörbig entschieden sich, dabei zu sein. „Das Flüsschen Fuhne, nach dem das Energieprojekt benannt ist, verbindet die drei Kommunen, in denen insgesamt 33.000 Menschen leben. 

Das Konzept beinhaltet Wind- und Solarstrom, der in der Region erzeugt wird und über industrielle Wärmepumpen in Wärme umgewandelt in alle Haushalte gebracht wird“, erklärt Andrea Behr, die als Sächsin für GP JOULE in Ostdeutschland die Projekte begleitet. Um bei zu viel Wind und Sonne im Netz die Anlagen nicht abregeln zu müssen, sollen zudem Elektrolyseure zur Erzeugung von Wasserstoff aufgebaut werden, der für die Industrie und den öffentlichen Nahverkehr genutzt werden soll. Der größte Teil des Wasserstoffs soll irgendwann in das nur wenige Kilometer entfernte Chemiedreieck rund um Wittenberg, Bitterfeld und Leuna verkauft werden. Breitschuh: „Diesmal soll der Strom nicht ohne Rücksicht auf regionale Bedürfnisse in die öffentlichen Stromnetze weggespeist werden.“ Ein Vertrag definiert die Rechte und Pflichten zwischen GP JOULE und der Gemeinde.

Im Jahr 2023 gab es mit den beteiligten Ortschaftsräten Informationstermine. Das 2009 von zwei deutschen Agraringenieuren ins Leben gerufene Unternehmen GP JOULE gründete die „Renergiewerke Fuhne“ mit Sitz in Radegast, auch eine Teilgemeinde im Südlichen Anhalt. Messlatte für den Erfolg ist, so Breitschuh, „dass wirklich Wertschöpfung vor Ort passiert. Wir müssen zu den Menschen gehen und sie überzeugen. In meinem Ort waren vorher 60 % gegen neue Windkraftwerke.“ In Versammlungen bekamen Bevölkerung, Gemeinden und Unternehmen das neue Projekt und seine Vorteile erläutert. Die Beteiligung und das kritische Interesse waren immens: In insgesamt zwölf Versammlungen kamen allein im Südlichen Anhalt etwa 1.300 Bürger und Bürgerinnen zusammen.

Konkrete Angebote für Bevölkerung, Kommunen und Unternehmen vor Ort

Andrea Behr freut sich, dass sie der Region ein ungewöhnlich attraktives Angebot unterbreiten können. Dazu zählen die folgenden Vorteile: 

  • Für alle Haushalte, die teilnehmen wollen, soll es einen kostenlosen Anschluss an das Nahwärmenetz geben; in den wenigen Fällen, wo Häuser zu weit entfernt voneinander liegen, stattdessen eine individuelle Wärmepumpe. Das Unternehmen übernimmt fast alle Investitions- und die Wartungskosten. Die Haushalte müssen nur den hausinternen Umbau des alten Heizkessels bzw. den Rest der Zuleitungen, in den wenigen Fällen, in denen das Haus mehr als zehn Meter von der Straße entfernt liegt, finanzieren. Alle beteiligten Haushalte erhalten ab Inbetriebnahme für zehn Jahre, ohne zusätzliche Grundgebühren, eine Wärmepreisgarantie für 10,3 Cent netto pro kWh. Die Stadt vereinbarte in den Verhandlungen mit GP JOULE, dass es keine Mindestabnahmemenge gibt. Die Menschen können sich zudem mit fest verzinsten Darlehen ab 250 Euro an dem Projekt beteiligen.
  • Das Angebot für den Anschluss an das Wärmenetz schafft auch für die Kommune finanzielle Planungssicherheit und günstige Wärmepreise für mindestens zehn Jahre. Zumindest fünf Millionen Euro Kosten für die sonst notwendige Heizungsumstellung der 88 kommunalen Gebäude entfallen. Die Stadt erhält eine Abgabe von 0,2 Cent pro erzeugter kWh der Windenergieanlagen, beim geplanten Endausbau sind das im Jahr insgesamt etwa 1,2 Millionen Euro.
  • Unternehmen aus der Region können ab einem Bedarf von 1 Million kWh über extra Verträge (Direct Wire PPA) grünen Strom beziehen. Diese direkte Stromversorgung aus Wind und Sonne soll größere Betriebe in der Region stabilisieren und so Arbeitsplätze und Steuereinnahmen absichern.

Misstrauisch fragten viele in den Versammlungen: „Wo ist der Haken? Wo bleibt denn euer Geschäftsmodell dabei?“ Andrea Behr informiert: „Der Haken ist, dass die Menschen auf Wind- und PV-Anlagen schauen müssen, die neben dem günstigen Wärmeangebot auch den Bau des Netzes quersubventionieren. Was nicht vor Ort genutzt wird, können wir anderweitig vermarkten – und deshalb vor Ort die Energie günstiger anbieten.“ In den Bürgerversammlungen gab es etwa 95 % an Zustimmung für das Konzept.

Petersberger Gegenwind

Aber es gab auch Gegenwind. Im Südlichen Anhalt bildete sich eine Initiative, die vor allem eine bundesweit gerechtere Verteilung der Windräder forderte. In der Nachbarkommune Petersberg fanden die Menschen plötzlich Flugblätter in ihren Briefkästen. „Wir haben es in den letzten 30 Jahren oft erlebt: Sie kamen aus dem Westen, haben viel versprochen und doch nur abkassiert“, hieß es darin. Die Verwaltung von Petersberg veröffentlichte daraufhin einen Faktencheck im Amtsblatt in Bezug auf die vom „Petersberger Gegenwind“ vorgebrachten Argumente:

  • Die Wärmenetze würden so ausgelegt, dass selbst bei vorübergehenden Abschaltungen die Heizungen nicht kalt bleiben.
  • Durch den städtebaulichen Vertrag sei abgesichert, dass selbst im Falle einer Insolvenz der Renergiewerke Fuhne GmbH eine Nachfolgegesellschaft auch an die Preisgarantie gebunden sei.
  • Die behauptete Wertminderung von Immobilien sei in ganz Deutschland nicht statistisch abgesichert. Im Gegenteil  die Immobilienpreise seien sogar in den Jahren des Zubaus von Windrädern gestiegen. Ein Haus mit regenerativem Wärmeanschluss erfahre zusätzlich eher eine Wertsteigerung gegenüber einem mit Öl und Gas versorgten Haus. Bei Versorgung mit dem Wärmenetz müsse auch die Heizung nicht ersetzt werden und der absehbar steigende CO2-Preis entfalle.
  • Die neuen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Projekts Fuhne würden zunächst vor Ort gesucht. Die ersten hätten das neue Büro im Stadtteil Radegast bereits bezogen.

Die Stadt und GP JOULE luden die Initiative Petersberger Gegenwind wiederholt zum Dialog ein. Nach der dritten Einladung kam es zur Begegnung und zum Gespräch.

Sechs Menschen stehen vor dem Rathaus in Radegast

Von links nach rechts: Christiane Bals, Thorsten Breitschuh, Christoph Bals und Andrea Behr, Markus Kremser, Sebastian Oberbillig (alle drei von GP JOULE) vor dem Büro in Radegast.

 

Im Südlichen Anhalt geht es weiter mit großen Schritten voran. In Quellendorf – dem ersten Dorf, in dem ein Nahwärmenetz gebaut werden soll – haben etwa 70 % der Grundstücke eine Anmeldung für das Wärmenetz eingereicht. 2024 soll neben der Bauleitplanung der Bau dieses Wärmenetzes beginnen, für 2025 ist die Errichtung der PV-Freiflächenanlagen, für 2027 die der Windräder geplant – und 2030 oder 2031 sollen alle Arbeiten abgeschlossen sein.

Noch ist das Projekt Fuhne nicht umgesetzt. Und der Teufel steckt oft im Detail. Aber es ist ein Konzept auf den Weg gebracht, das die Region zu einem Vorreiter der Energiewende machen könnte. Und zwar so, dass Bevölkerung, Kommunen und Unternehmen vor Ort davon profitieren. „Wir sind bereit mehr zu machen, als wir machen müssten“, sagt Breitschuh. „Aber wir hätten gerne die Zusage, dass man uns in Zukunft nicht noch mehr an Wind und Sonne aufbürdet, nur weil wir nicht den Widerstand wie andere leisten.“

Autor:innen

Christoph Bals, Christiane Bals

Zitiervorschlag

Bals, C., 2024, Mehrwert für Menschen, Demokratie und Klima. Wärme, Wind und Sonne beflügeln eine ländliche Region in Sachsen-Anhalt

Ansprechpersonen

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Politischer Geschäftsführer
(bis 15.6.24 in Politischer Fokus-Zeit)