Blogpost | 29.07.2019

Digitale Energiewende: Klima retten, aber richtig

Blog-Beitrag von Hendrik Zimmermann, Juli 2019
Hendrik Zimmermann auf der Konferenz „Bits & Bäume“, 2018

„Wir müssen die digitale Energiewende klug vorantreiben – und nicht irgendwie“
Hendrik Zimmermann, hier auf der Konferenz „Bits & Bäume“

Der Weltklimarat hat einen Sonderbericht zur globalen Erderhitzung vorgelegt. Im Bericht vom Oktober 2018 wird deutlich: Es ist noch immer möglich, die Erhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen.[1] Aber dafür brauchen wir digitale Technologien.

Oberhalb der 1,5 Grad wachsen laut Weltklimarat die Risiken für die Auslösung sogenannter Kipp-Punkte rapide. Kipp-Punkte lösen nicht mehr beherrschbare katastrophale Prozesse aus, von denen viele eine sich selbst beschleunigende Überhitzung des Planeten zur Folge haben. Wenn wir die 1,5-Grad-Grenze einhalten, wären überdies laut Weltklimarat mehrere Hundert Millionen Menschen weniger von extremer Armut betroffen, als wenn wir die Grenze nicht einhalten.

Auch in Deutschland zeigen sich die Auswirkungen der Klimakrise bereits auf dramatische Weise: 2018 war das bisher heißeste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Im Sommer 2019 jagt in Europa ein Hitzerekord den nächsten.[2] Die negativen Folgen für Sicherheit und Gesundheit vieler Menschen und auch für die Wirtschaft sind enorm.

Doch wie kann die 1,5-Grad-Grenze noch eingehalten werden? In den kommenden gut 30 Jahren müssen wir die weltweiten Emissionen auf „netto null“ senken, so der Weltklimarat – also auf nicht mehr als das Maß an jährlichen Emissionen, die wir der Atmosphäre pro Jahr entziehen.

Im Folgenden verdeutliche ich die großen Chancen, die die Digitalisierung für die Energiewende und den Klimaschutz bietet. Ich zeige jedoch auch die Risiken auf, die mit den komplexen IT-Systemen im Energiebereich einhergehen. Zuletzt lege ich kurz dar, was getan werden muss, damit die digitale Energiewende nachhaltig gelingt.

Chancen - oder: Ohne Digitalisierung geht es nicht

Die notwendige Strom-, Verkehrs-, Wärme- und Industriewende kann nur mit digitalen Technologien umgesetzt werden: Da der Wind nicht immer weht und die Sonne nicht immer scheint, muss der erneuerbar erzeugte Strom nicht nur über teils weite Distanzen transportiert und lokal gespeichert werden. Auch wenn Speicher in großem Umfang eingesetzt werden, müssen Industrie, Gewerbe und Haushalte ihren Verbrauch flexibler an Wind und Sonne anpassen.[3] Erneuerbarer Strom muss zudem zur Grundlage von Mobilität, Wärme, Gas und Kraftstoffen werden („Sektorenintegration“[4]).

Ein System, das all diese Anforderungen erfüllt, ist komplex. Um ein solches System zu koordinieren, müssen Daten über die Erzeugung von erneuerbarem Strom, über seinen Transport, seine Speicherung, den Strombedarf und insbesondere auch die Sektorenintegration schnell erfasst und vollautomatisch verarbeitet werden. Mithilfe von Wetterdaten sagen Forscher*innen zudem die Erzeugungsleistung erneuerbarer Energien deutlich besser vorher.

Auf dem Strommarkt werden zunächst virtuelle Strommengen gehandelt. Damit diesem virtuellen Handel auch in einem von Erneuerbaren Energien dominierten Energiesystem tatsächliche Stromlieferungen entsprechen, ist perspektivisch ein funktionierendes Zusammenspiel von Netz und Markt mittels digitaler Technologien erforderlich.

Durch eine digitale, automatisierte Steuerung des Zusammenspiels von Netzen, Speichern, flexibler Erzeugung und flexiblem Verbrauch, von Märkten und der Sektorenintegration können wir die Emissionen bis 2050 auf netto null senken und das System kann effizient und stabil funktionieren.[5] [6] Zudem können wir bestehende Energienetze besser auslasten.

Im Verkehr ist die Vernetzung von öffentlichen Bussen und Bahnen mit elektrischer oder brennstoffzellenbasierter Sharing-Automobilität sowie mit geteilten Lasten- und Fahrrädern oder Sharing-Rollern ein weiteres Beispiel für die Chancen der Digitalisierung im Klimaschutz.

Risiken: Hackerangriffe und Überwachung

Doch die Digitalisierung des Energiesystems hat auch ihre Schattenseiten. So stuft das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik [7] vernetzte Energiesysteme als kritische Infrastruktur ein. Angriffe können im Extremfall zu großflächigen Ausfällen der Energieversorgung führen.

Angriffe anderer Staaten, aber auch von privaten Hacker*innen können zum Beispiel terroristisch oder wirtschaftlich motiviert sein. Vernetzung und Komplexität erhöhen die Anfälligkeit, da sich Ausfälle schneller und schlechter kontrollierbar in den Netzen ausbreiten.

Die präzise Steuerung der Energiesysteme erfordert Informationen über Stromerzeugung und -bedarf und deren zeitliche und räumliche Verteilung. Intelligente Stromzähler messen den Stromverbrauch im Zeitverlauf in Haushalten. Dies lässt allerdings Rückschlüsse auf das Verhalten von Stromverbraucher*innen und damit auf ihren Tagesablauf zu.[8]

Datenübertragungen sind gesetzlich alle 15 Minuten vorgesehen. Dies kann ausreichen, um Tagesabläufe zu rekonstruieren.[9] Geschäftsmodelle, bei denen Firmen die Daten zum Beispiel zu Werbezwecken nutzen, führen zu zusätzlichen Risiken für die Privatsphäre – umso mehr, wenn die Nutzer*innen keine Kontrolle über ihre Daten haben. Die Daten vollständig zu anonymisieren, hilft hier nur bedingt.

Nachhaltige Digitalisierung: IT-Systeme nur mit Umweltschutz und Menschenrechten

Für vernetzte Energiesysteme müssen wir eine ausreichende IT-Infrastruktur aufbauen. Aus Nachhaltigkeitsperspektive müssen wir den Stromverbrauch des digitalen Energiesystems ganzheitlich betrachten. Denn die IT-Systeme benötigen selber viel Strom.[10]

Wir müssen daher konsequent Strom aus Erneuerbaren Energien einsetzen, um Computer und Rechenzentren zu betreiben. Zudem müssen wir sie so bauen, dass sie energieeffizient laufen („Green IT“). Wir müssen sie z.B. mit Wasser kühlen und ihre Abwärme nutzen.

Hersteller von Hardware gewinnen die benötigten Rohstoffe häufig auf eine Weise, die die Umwelt schädigt und die Menschenrechte schleift.[11] [12] Die Bundesregierung muss dies verhindern.

Digitalisierung führt durch Netzwerkeffekte häufig zur Bildung von Monopolen[13]. Wer besonders viele wertvolle Daten hat, kann die attraktivsten Angebote gestalten. Bei der Digitalisierung der Energieversorgung muss die Politik Machtkonzentrationen vermeiden, damit Großkonzerne nicht auf Kosten von kleinen und mittelständischen Unternehmen sowie der Nutzer*innen profitieren und der politische Einfluss der Konzerne noch größer wird. Hier sind Open-Source-Lösungen eine zukunftsweisende Antwort.

Wir müssen zudem untersuchen, welche Effekte die Digitalisierung der Energiemärkte und -netze auf Arbeitsplätze haben wird. Finanzstarke Akteure wie Unternehmen oder wohlhabende Haushalte mit Solaranlage, Speicher oder Elektroauto müssen die Energienetze mitfinanzieren. Die Netze zur Versorgung aller Menschen mit Strom müssen auch von allen Menschen finanziert werden.

Lösungen - Was müssen Bundesregierung und Wirtschaft tun?

Die Bundesregierung muss handeln und die Gesetze so ändern, dass die Digitalisierung nachhaltig und klimafreundlich umgesetzt wird. Folgende Forderungen ergeben sich aus den Risiken:   

  • Pariser Klimaschutz-Abkommen einhalten: Jeder digitalisierte Umbau von Energiesystemen muss das Ziel verfolgen, unsere Emissionen bis 2050 auf „netto null“ zu senken. Die Geschäftsmodelle von Unternehmen müssen darauf einzahlen.
     
  • Sicherheit kritischer Infrastrukturen: Hersteller, Einkäufer und Betreiber der IT-Systeme müssen hohe Anforderungen an Datenschutz und Sicherheit erfüllen und Schwachstellen melden und beheben.[14] Behörden dürfen keine Schwachstellen für Überwachung, Strafverfolgung oder Militär geheim halten.
     
  • Datenschutz bei der Verbrauchsmessung: Intelligente Stromzähler müssen so programmiert sein, dass kein Rückschluss auf den Tagesablauf von Personen möglich ist.
     
  • Soziale Gestaltung: Die Bundesregierung muss Daten-Monopole verhindern oder abbauen, damit auch kleine und mittelständische Unternehmen an der digitalen Energiewende teilhaben können. Private Nutzer*innen müssen die Daten über ihr Verhalten selbst kontrollieren können. Die Bundesregierung muss sicherstellen, dass Nutzen und Kosten der Digitalisierung nach sozialen Kriterien verteilt werden.
     
  • Umweltschutz und Menschenrechte bei Hard- und Software: Lieferketten müssen transparent sein. Firmen, die nötige Rohstoffe gewinnen und IT-Komponenten herstellen, betreiben und entsorgen, müssen die Umwelt schützen und die Menschenrechte einhalten.

Die aufgeführten Punkte zeigen, dass die nachhaltige Digitalisierung der Energiewende kein Selbstläufer ist. Die Bundesregierung und die Wirtschaft müssen daher dafür sorgen, dass die digitale Energiewende ökologisch, sozial gerecht und unter Wahrung der Menschenrechte abläuft.


Dieser Artikel wurde zuerst als Kurzfassung in ähnlicher Form auf nachhaltig.digital publiziert und erscheint in längerer Fassung in dem Buch „Digitalisierung und Ethik“ (VÖ 15. September 2019).


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Fußnoten/Quellenangaben:

[1] IPCC. Special Report: Global Warming of 1.5 °C. https://www.ipcc.ch/sr15/ (2018).

[2] World Weather Attribution: Human contribution to record-breaking June 2019 heatwave. https://www.worldweatherattribution.org/human-contribution-to-record-breaking-june-2019-heatwave-in-france/ (2019)

[3] Elsner, P., Fischedick, M. & Sauer, D. U. Flexibilitätskonzepte für die Stromversorgung 2050. Technologien – Szenarien – Systemzusammenhänge (Schriftenreihe Energiesysteme der Zukunft, 2015).

[4] Ausfelder, F.et al. „Sektorkopplung“ – Untersuchungen und Überlegungen zur Entwicklung eines integrierten Energiesystems (Schriftenreihe Energiesysteme der Zukunft, 2017).

[5] Zimmermann, H. & Wolf, V. Sechs Thesen zur Digitalisierung der Energiewende: Chancen, Risiken und Entwicklungen. www.germanwatch.org/de/12556 (2016).

[6] Weigel, P. & Fischedick, M. Rolle der Digitalisierung in der soziotechnischen Transformation des Energiesystems. Energiewirtschaftliche Tagesfragen 68 (2018).

[7] Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik. Die Lage der IT-Sicherheit in Deutschland 2017. https://www.bsi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/BSI/Publikationen/Lageberichte/Lagebericht2017.pdf?__blob=publicationFile&v=4 (2017).

[8] Müller, K. J. Gewinnung von Verhaltensprofilen am intelligenten Stromzähler. DuD 6, 359-364 (2010).

[9] ebd.

[10] Santarius, T. & Lange, S. Smarte grüne Welt? Digitalisierung zwischen Überwachung, Konsum und Nachhaltigkeit (oekom, 2018).

[11] Beckedahl, M. & Lüke, F. Die Digitale Gesellschaft (dtv, 2012).

[12] Datenschutzbehörden. SDM. Das Standard-Datenschutzmodell. Version 1.1, 95. Konferenz der unabhängigen Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder, https://www.datenschutzzentrum.de/uploads/sdm/SDM-Methode_V1.1.pdf (2018).

[13] Beckedahl, M. & Lüke, F. Die Digitale Gesellschaft (dtv, 2012).

[14] Datenschutzbehörden. SDM. Das Standard-Datenschutzmodell. Version 1.1, 95. Konferenz der unabhängigen Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder, https://www.datenschutzzentrum.de/uploads/sdm/SDM-Methode_V1.1.pdf (2018).