Meldung | 18.03.2022

Neue Bundesregierung im Krisenmodus

Unser Team zieht Bilanz der ersten 100 Tage
Bild: Germanwatch-Mitarbeiter:innen

Die neuen Bundesminister:innen sind im Dezember mit viel Energie gestartet und haben dabei unseren Themen deutlich größeren Stellenwert eingeräumt als ihre Vorgänger:innen – nicht nur in der Klimapolitik, sondern beispielsweise auch beim Recht auf Reparatur oder in der Agrarpolitik. Am 18. März ist die Bundesregierung hundert Tage im Amt. Zu diesem Anlass habe ich mich in unseren Fachteams nach einer ersten Einschätzung umgehört. Keine einfache Aufgabe in Tagen, in denen sich Nachrichten aus der Ukraine förmlich überschlagen.

Mit Wladimir Putins Krieg muss die Bundesregierung sich bereits zu Beginn ihrer Amtszeit neuen gravierenden Fragen stellen, anstatt nur den Koalitionsvertrag abzuarbeiten. Einige ihrer Pläne sollten dadurch noch beschleunigt werden – beispielsweise die Verbesserung von Energieeffizienz und der Ausbau der Erneuerbaren Energien, um uns unabhängiger von russischen Gas-, Öl- und Kohle-Importen zu machen. Es zeichnet sich auch ab, wo die Bundesregierung über den Koalitionsvertrag hinausgehen muss. Ziel muss sein, widerstandsfähiger gegen Krisen zu werden und künftige Krisen zu vermeiden. Das geht auch in Zukunft nur mit einer gerechten Politik, die sich an den Grenzen des Planeten und den Menschenrechten orientiert.

Lutz Weischer
Politische Leitung Berlin

 

Landwirtschaft: Große Pläne, (noch) kleines Geld

"Landwirtschaftsminister Özdemir hat schon kurz nach seinem Amts-antritt eine heftige Debatte losgetreten. Sein schneller Vorstoß gegen Ramschpreise für Fleisch erhielt viel Zustimmung, aber auch Gegenwind: Fleisch als Lebensmittel müsse für alle Menschen bezahlbar bleiben. Übersehen wurde dabei leider oft, dass eine Landwirtschaft, die sowohl ihre natürlichen Ressourcen als auch eine gesunde Ernährung sichert, nicht möglichst viel und billig, sondern ausreichend und vielfältig produzieren muss – mit hohen sozialen, ökologischen und tierethischen Standards. Und mit deutlich weniger Tieren. Wir können es uns schlicht nicht länger leisten, Getreide zuhauf an Tiere zu verfüttern. Das machen der Krieg in der Ukraine und seine Auswirkungen auf die Agrarmärkte aktuell erschreckend deutlich. Aber auch so ist der Fleischverzehr viel zu hoch. Der Kurs der neuen Regierung stimmt daher. Entscheidend ist nun, Bäuer:innen und ärmere Haus-halte beim Umbau zu unterstützen. Bei der nötigen Finanzierung steht die FDP trotz einhelliger Vorschläge von Bauernverband bis Umweltverbänden noch auf der Bremse – umsonst wird die Agrar- und Ernährungswende aber nicht zu haben sein."

Konstantinos Tsilimekis
Teamleiter Welternährung, Landnutzung und Handel

 

Auf die Plätze, fertig und …

"… los! Doch die Corona-Krise hat den Neustart für Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) nach der Wahl zunächst ausgebremst. Die BNE-Landschaft ist optimistisch, auch weil im Koalitionsvertrag viele gute Ansatzpunkte für eine Stärkung und Umsetzung von BNE stehen. Es braucht für globale Krisen – wie die Klima-, Biodiversitäts-, und Rohstoffkrise – Men-schen, die die Transformation hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft mitgestalten können und auch die Räume, Formate und Mandate bekommen, um dies wirksam zu tun. Eine auf allen Ebenen verankerte und gelebte BNE ist dafür essenziel, zum Beispiel durch eine Qualifikationsoffensive für Lehrer:innen und prüfungsrelevante Nachhaltigkeitsthemen in jedem Fach. Germanwatch bringt sich bei der „Nationalen Plattform BNE“ insbesondere über das „Forum nonformales und informelles Lernen“ ein. Im Dezember 2021 hat mit Marie Heitfeld eine Germanwatch-Mitarbeiterin den Vorsitz dieses Forums übernommen. Ganz oben auf der Agenda stehen aktuell die bessere Finanzierung von BNE im non-formalen Bereich, die Verknüpfung von politischer Bildung und BNE, wie sie im neuen Programm BNE2030 der UNESCO formuliert wurde, sowie Digitalisierung."

Daniela Baum
Referentin Bildung für nachhaltige Entwicklung

 

Klimapartnerschaften als Friedenspolitik der 20er Jahre

"Die Ampelregierung stellt den Klimaschutz international ins Zentrum – so war mein Fazit vor dem 24. Februar 2022 und ist es auch weiterhin. Einzig die Ereignisse in der Ukraine haben die Perspektive verschoben. Nun ist Klimapolitik nicht mehr „lediglich“ Klimapolitik, sie ist Geopolitik, sie ist Friedenspolitik. Die Regierung hatte bis dahin zurecht die Klimapolitik in den Fokus ihrer G7-Präsidentschaft genommen, zurecht eine Klimaaußenpolitik ins Leben gerufen und mit Jennifer Morgan – einem Germanwatch-Ehrenmitglied – personell perfekt besetzt und nicht zuletzt zurecht mit Klima- und Energiepartner-schaften aufs richtige Pferd gesetzt. Problem ist nur: Wenn Finanzminister Lindner die Erneuerbaren Energien zur Freiheitsenergie ausruft, muss er hierfür auch international das Geld bereitstellen. Noch hat die neue Regierung nicht mal sichergestellt, dass das aktuelle, unzureichende Klimafinanzierungsversprechen bis 2025 finanziert werden kann. Bei einer Entscheidung lag die neue Regierung dann doch leider gänzlich falsch: In der EU-Taxonomie – einem Klassifizierungssystem für nachhaltige Investition – bewertete sie fossiles Gas als „grün“. Ob diese Entscheidung nach dem 24. Februar genauso ausgefallen wäre? Mehr als fraglich."

David Ryfisch
Co-Teamleiter Internationale Klimapolitik

 

Postfossiles Deutschland – jetzt erst recht möglich machen

"Der neue Bericht des Weltklimarats zu den verheerenden Auswirkungen der Klimakrise und der von Wladi-mir Putin entfachte Krieg zeigen uns so dringlich wie nie zuvor, dass wir uns noch schneller aus der Abhängigkeit fossiler Rohstoffe befreien müssen. Daran gemessen sehen wir Licht und Schatten in den ersten hundert Tagen. Der Koalitionsvertrag macht mit seinem Versprechen für einen Aufbruch im Kampf gegen die Klimakrise erstmal Mut. Doch Schwachstellen sehen wir bei den Vorhaben der Ampel zur stockenden Verkehrswende. Hier fehlt eine Strategie zum Umstieg Deutschlands von Flugzeug und Auto auf Bahn und ÖPNV. Zum Ausgleich steigender Energiepreise wählt die Koalition unter anderem die Anhebung der Pendlerpauschale, eine sozial ungerechte Maßnahme. Stattdessen könnte sie end-lich eine Pro-Kopf-Klimaprämie gesetzlich umsetzen, von der die ärmsten Haushalte stark profitieren würden. So könnte die Ampelkoalition jetzt gezielte Klimaschutzinstrumente wie wirkungsvolle CO2-Preise sozialverträglich ausgestalten. Auf europäischer Ebene muss die Regierung eine konstruktive Rolle zur Etablierung eines Klimasozialfonds einnehmen."

Kai Bergmann
Referent für deutsche Klimapolitik

 

Langlebige Produkte fördern, Elektroschrott vermeiden

"Gemeinsam mit dem Runden Tisch Reparatur setzt sich Germanwatch seit langem für ein Recht auf Repa-ratur ein. Inzwischen steht dieses nicht nur im Koalitionsvertrag, sondern Verbraucher:innenschutzministerin Lemke möchte sich dem Thema prioritär widmen. Wichtig ist, dass Deutschland sich auf EU-Ebene für einen starken Reparaturindex einsetzt, der auch die Preise für Ersatzteile bewertet – denn hohe Reparaturkosten verhindern eine Reparatur. Zudem braucht es auf nationaler Ebene eine Strategie, damit das Handwerk nicht ausstirbt."

Johanna Sydow
Referentin für Ressourcenpolitik

 

Europäisches Lieferkettengesetz: Jetzt muss nachgebessert werden

"Während der ersten hundert Tage der neuen Bundesregierung hat die EU-Kommission den Entwurf für ein EU-Lieferkettengesetz vorgelegt. Nun ist die Bundes-regierung am Zuge und muss im EU-Rat ihr Vorhaben aus dem Ko-alitionsvertrag vorantreiben: ein wirksames EU-Lieferkettengesetz. Die Vorlage der EU bietet mit einer Haftungsregelung eine gute Voraussetzung, aber es besteht noch Nachbesserungs-bedarf. So muss eine praktikable Beweislastrege-lung dafür sorgen, dass Betroffene im Schadensfall auch wirklich ihr Recht einklagen können. "

Johanna Kusch
Referentin für Unternehmensverantwortung, Koordinatorin Initiative Lieferkettengesetz