Hat die EU ihre Chance verspielt?

Weitblick Artikel

Hat die EU ihre Chance verspielt?

Die Alternative: ganz allein auf weiter Flur oder Vermittler zwischen den Agrarblöcken

 

Im Agrarbereich waren im Vorfeld von Seattle zwei Verhandlungspositionen von Entwicklungsländern auszumachen: Auf der einen Seite die Cairns-Gruppe, die mittlerweile aus 18 Ländern besteht. Dabei handelt es sich um zumeist große Agrargüter exportierende Länder wie Australien oder Kanada mit industriell entwickelter Infrastruktur, aber auch um Entwicklungsländer wie Bolivien, Guatemala oder die Philippinen. Sie forderten die weitgehende Aufhebung der Handelsrestriktionen im Agrarbereich mit wenigen Ausnahmen für unterentwickelte Länder. Dies verband sie eng mit der Position der USA, die ähnliche Forderungen erhob. Dieser Gruppe gegenüber stand die zweite Verhandlungsposition, vertreten von einer ganzen Reihe von Entwicklungsländern (die sogenannte G-77- Gruppe). Angeführt von Ländern wie Ägypten und Indien, besteht sie auf dem Recht, ihre heimische Landwirtschaft vor Importen aus dem Ausland schützen zu dürfen. Dabei argumentiert sie, daß billige und teilweise subventionierte Agrargüter von außerhalb die "verletzbare" Nahrungsmittelproduktion in ihren Ländern zerstören würde. Aufgrund ihrer geringen Devisenzuflüsse und der geringen Kaufkraft der Bevölkerung wären sie letztendlich auch nicht in der Lage, die Nahrungsmittelimporte zu finanzieren. Außerdem sei auch ein großer Teil ihrer Bevölkerung in der heimischen Landwirtschaft beschäftigt (dies sind meist mehr als 50 % der Arbeitsplätze). Gingen sie im Zuge einer weiteren Liberalisierung verloren, könnten die Menschen in keinem anderen Sektor einen Ersatzarbeitsplatz finden. Deshalb forderten einige Länder wie Ägypten, Kuba, Uganda, Zimbabwe oder Sri Lanka auch die Errichtung einer Food Box oder Development Box, in der nach dem Vorbild der sogenannten green-box, (s. Leitartikel) Maßnahmen zur Ernährungssicherung von Entwicklungsländern zusammengefaßt werden können, die dann nicht als versteckte Subventionen gelten würden. Zusammen mit der EU standen sie der Cairns-Gruppe und den USA in unvereinbaren Verhandlungspositionen gegenüber

Nach Seattle sind sich die Entwicklungsländer beider Blöcke erheblich näher gekommen. Dies liegt zum einen daran, dass in einigen Ländern der Cairns-Gruppe wie Thailand, Malaysia oder Brasilien, die erschüttert wurden durch Finanzkrisen, der Glaube an die Vorteile einer vollständigen Liberalisierung wieder etwas nachgelassen hat und umfassende Sonderkonditionen für Entwicklungsländer im Welthandelssystem jetzt für unerläßlich gehalten werden. Zum anderen sind die Entwicklungsländer im allgemeinen sehr enttäuscht darüber, daß die EU ihre Agrarmärkte nur sehr zögerlich öffnet und den Weltmarkt mit hochsubventionierten Agrarprodukten überschwemmt. Ihre Distanz zur EU-Position vergrößert sich. Erfreulich ist, daß das Selbstbewußtsein der Entwicklungsländer in Handelsfragen zunehmend stärker wird. Dies ist auch daran zu erkennen, daß sie sich immer mehr in Gruppen zusammenschließen, um ihre Positionen wirksamer zu vertreten. Der EU droht, daß sie mit ihrer Position zum Agrarhandel bald ganz allein auf weiter Flur steht. Sie hat es versäumt, möglichst viele Entwicklungsländer durch die Gewährung von besseren Marktzugangsbedingungen und das Zurücknehmen von Exportsubventionen auf ihre Seite zu ziehen. Doch noch ist es nicht zu spät: Die nicht-handelsbezogenen Anliegen (non trade concerns) können nach wie vor auf eine gemeinsame Basis gestellt werden. So könnte die EU ihr eigenes Interesse an einer landwirtschaftlich nachhaltigen Landwirtschaft koppeln mit dem Interesse der Entwicklungsländer an der Agrarproduktion als einem Sektor, der große Teile der Bevölkerung beschäftigt und die Ernährung sichert. Doch dazu muß die EU rasch damit anfangen, den Entwicklungsländern umfangreiche Vorzugsbedingungen zu gewähren.
 

Steffen Melchers

Zuletzt geändert