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Eine Industrieanlage hitner einem Fuss und grüner Wiese

Perspektiven für eine nachhaltige Chemieindustrie

Die chemische Industrie ist ein allgegenwärtiger Bestandteil unserer modernen Lebensweise und liefert Materialien und Vorprodukte für vielfältige Industriezweige. Weltweit produziert der Chemiesektor mehr als 1% des globalen Bruttoinlandsprodukts, in Deutschland handelt es sich sogar um den drittgrößten Industriezweig. Dass die Chemieindustrie – als der industrielle Sektor mit dem höchsten Endenergieverbrauch und einer der wenigen Sektoren, der fossile Rohstoffe auch stofflich verwertet – zu den klimaschädlichsten Industriezweigen gehört, verwundert nicht. Allein die energetischen und prozessbedingten Treibhausgasemissionen entsprechen knapp 6% der jährlichen globalen Treibhausgasemissionen. Mit den End-of-life-Emissionen der Produkte (also den Emissionen, die am Ende eines Produktlebens entstehen, bspw. durch Verbrennung oder biologischem Abbau) könnten es sogar doppelt so viel sein. Um die Transformation zur Klimaneutralität zu meistern, braucht es daher branchenweit einen systemischen Wandel, der dazu führt, dass sowohl die energetischen als auch die stofflichen Emissionen reduziert und letztlich vermieden werden. Die wichtigsten Säulen dafür sind Elektrifizierung, Feedstock-Change (also der Wechsel der Rohstoffbasis) und Kreislaufwirtschaft.

Während der Transformationspfad für die Chemieindustrie noch deutlich weniger klar ist als für andere energieintensive Branchen, gibt es in Bezug auf die genannten Säulen bereits Projekte und Vorhaben, die erste Schritte in Richtung Klimaneutralität gehen. Im folgenden Blogbeitrag skizzieren wir die jeweiligen Herausforderungen und zeigen an konkreten Beispiele auf, wie Transformation gelingen kann.

Energetische Umstellung

Die Herstellung chemischer Grundstoffe ist gemessen an der Wertschöpfung extrem energieaufwendig. Allein in Deutschland betrug 2023 der Energiebedarf der chemischen Industrie etwa 171 TWh, davon kam mehr als die Hälfte direkt aus fossiler Quelle. Erneuerbarer Strom macht derzeit nur etwa 14% der Energieversorgung der chemischen Industrie aus. Die übrigen 86% des Energiebedarfes der Chemieindustrie aus erneuerbaren Quellen zu decken, ist eine finanzielle und planerische Herausforderung. Denn viele chemische Prozesse benötigen sehr hohe Temperaturen bis über 1500°C. Diese werden bislang durch Verbrennung fossiler Rohstoffe erreicht. Studien zeigen, dass die Wärme- und Kühlungsbedarfe der europäischen Chemieindustrie vollständig durch Strom abgedeckt werden können, sobald noch in Entwicklung stehende Technologien zur direkten Elektrifizierung Anwendung finden. Dies entspräche einer CO2- Einsparung von 62%. Die direkte Elektrifizierung sollte deshalb dem Einsatz alternativer Brennstoffe zur Wärmegewinnung vorgezogen werden, denn Biomasse, grüner Wasserstoff und andere regenerative Kohlenstoffe können stofflich höherwertig eingesetzt werden (siehe unten die Ausführungen zu Feedstock-Change). Ein zentrales Beispiel für die Elektrifizierungsmöglichkeiten in der Chemieindustrie bietet der eFurnace.

eFurnace

Der eFurnace setzt direkt an der größten prozessbedingten CO2-Quelle in der Wertschöpfungskette an: dem Steamcracker (dt. Dampfspaltung). Hier finden ein Großteil der Grundstoffchemikalien ihren Anfang. Bei etwa 850°C werden langkettige Kohlenwasserstoffe unter Einsatz von Wasserdampf in kürzere Olefine und Aromaten gespalten. Bislang werden Steamcracker mithilfe fossiler Energieträger beheizt, doch in Ludwigshafen sind seit April 2024 Pilotanlagen zur Elektrifizierung der Wärmebereitstellung am Steamcracker im Einsatz. Gemeinsam mit den Projektpartnern SABIC und Linde testet die BASF SE mit Fördergeldern des Wirtschaftsministeriums bis 2026 die beiden weltweit ersten elektrisch beheizten Spaltöfen (einer davon direkt elektrifiziert, der andere indirekt). Kommerzielle eFurnace sollen in Zukunft mindestens 90% der direkten CO2-Emissionen aus der Dampfspaltung einsparen können. 

Feedstock-Change

Zwei Drittel der Emissionen der chemischen Industrie entstehen bei vor- und nachgelagerten Prozessen, also bspw. durch Methan-Leckagen bei der Förderung des Rohöls oder bei der Verbrennung von Endprodukten. Um Net-Zero und eine langfristig nachhaltige Industrie zu erreichen, muss daher auch die Frage gestellt werden, welche Rohstoffe genutzt werden, woher sie stammen und was mit den Rohstoffen und ihren Produkte passiert, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Das Ziel muss sein, im ersten Schritt die Nutzung fossiler Rohstoffe so weit wie möglich zu reduzieren und die genutzten Kohlenstoffe in geschlossenen Kreisläufen zu führen.

Rohstoffeinsatz und Kohlenstoffbedarf

Tortendiagramm zur Rohstoffbasis der organischen Chemie in Deutschland

Abbildung 1: Rohstoffbasis der organischen Chemie in Deutschland, Anteile in Prozent, 2023, Quellen: Destatis, BAFA, FNR und VCI

Der deutsche Chemiesektor benötigt aktuell etwa 15 Millionen Tonnen jährlich an Kohlenstoff für den stofflichen Input. Laut Schätzungen des nova-Instituts wird die Chemieindustrie in der EU im Jahr 2050 einen Kohlenstoffbedarf von etwa 207 Millionen Tonnen haben. Will man die Nutzung fossiler Rohstoffe vermeiden, werden diese zukünftigen Kohlenstoffbedarfe vollständig über erneuerbare Kohlenstoffquellen gedeckt werden müssen: also durch die Kreislaufwirtschaft, Biomasse und atmosphärisches CO2.

Kreislaufwirtschaft

Die Kreislaufwirtschaft spielt eine essenzielle Rolle. Rezyklate werden einen bedeutenden Anteil des fossilen Inputs ersetzen müssen. Bisher wird in der EU dafür aber noch nicht ausreichend recycelt: Im Jahr 2022 lag der Anteil von sekundären Kunststoffen am gesamten Kunststoffverbrauch in der EU bei 12 %. Studien zeigen aber, dass diese Rate durch eine Stärkung der Kreislaufwirtschaft deutlich erhöht werden kann. Das Kunststoff-Recycling stößt jedoch aus verschiedenen Gründen an seine Grenzen. Mechanisches Recycling braucht relativ sortenreine Abfallströme. Zurzeit bestehen aber viele Kunststoffprodukte aus komplexen Verbundstoffen. Eine Reduktion der Anzahl verschiedenartiger Polymere je Produkt, im Sinne eines Design for Circularity, das auch den Schadstoffanteil in Produkten eingrenzt, würde die Recyclingfähigkeit erheblich erhöhen. Doch auch das von der Branche immer wieder als Lösung für das Plastik-Problem gepriesene chemische Recycling benötigt meistens sortenreine Polymere als Basis und ist sehr energieaufwendig. Zur Kreislaufwirtschaft gehört daher noch viel mehr als das bloße Recycling von Abfällen: etwa die Reparierbarkeit von Produkten, Langlebigkeit und das angesprochene Design for Circularity. Angesichts der enormen Herausforderungen zur Deckung der Kohlenstoffbedarfe (Energie- und Rohstoffbedarfe) ist zudem eine generelle Reduktion des Verbrauchs notwendig, z.B. durch alternative Geschäftsmodelle:

Chemical Leasing

Bisher haben Unternehmen kaum wirtschaftliche Anreize, ihre Produktionsmengen zu reduzieren, da Umsatz und Gewinn stark an den Output gekoppelt sind. Chemical Leasing bietet hier einen alternativen Ansatz, der Umweltverträglichkeit, Leistung und Prozessoptimierung vereint. Statt Chemikalien als Produkt zu verkaufen, bieten Hersteller Dienstleistungen an und bleiben über den gesamten Lebenszyklus hinweg für die Chemikalien verantwortlich. Ein Praxisbeispiel ist das deutsche Chemieunternehmen SAFECHEM, das 2021 von der UNIDO mit dem Global Chemical Leasing Award ausgezeichnet wurde. Seit 2010 bietet SAFECHEM ein Lösemittel-Gesamtpaket an, das neben der Bereitstellung auch Beratung, Qualitätsüberwachung, Schulungen sowie die Entsorgung bzw. Wiederaufbereitung umfasst. Abgerechnet wird über eine individuell vereinbarte Pauschale – nicht über die Menge. Dadurch entsteht ein wirtschaftliches Interesse, den Chemikalieneinsatz möglichst effizient zu gestalten. Laut SAFECHEM konnte der Lösemittelverbrauch bei Kund:innen so um bis zu 93 % reduziert werden. Die Unternehmensberatung Deloitte empfiehlt Chemieunternehmen deshalb, ihre Geschäftsmodelle stärker zirkulär auszurichten: „Ein produkt- und funktionsfokussiertes Portfolio zu haben ist nicht mehr ausreichend.“

Biomasse

Selbst bei einem Ausbau der Kreislaufwirtschaft wird die Chemieindustrie weiterhin auf zusätzlichen Kohlenstoff angewiesen sein. Erneuerbare Kohlenstoffquellen wie Biomasse gewinnen daher an Bedeutung. Für 2045 prognostiziert das ptX-Lab Lausitz in Deutschland ein verfügbares Biomassepotenzial von 1,1 bis 8,6 Megatonnen – genug, um bis zu 63% des Kohlenstoffbedarfs der Branche zu decken. Geeignet sind vor allem stärke-, zucker- oder lignocellulosehaltige Pflanzen, wobei die stoffliche Nutzung von Biomasse nicht in primäre Konkurrenz zur Lebensmittelproduktion treten darf. Stattdessen sind Potenziale aus der bioökonomischen Nutzung von Bioabfällen und Reststoffen aus der Getreide- und Holzproduktion zu erschließen, die landwirtschaftlichen Betrieben Sicherheit und Perspektive bieten können. Darüber hinaus könnte eine klimagerechte Neuausrichtung von Landwirtschaft und Ernährung den Bedarf an Futtermittelanbau verringern und damit geeignete direkt nutzbare Flächen freimachen. Soll Biomasse künftig einen Großteil des verbleibenden Kohlenstoffbedarfs abdecken, müsste die EU bei gleichbleibender Verfügbarkeit ggf. auch verstärkt Importe in Betracht ziehen. 

Biobasiertes Anilin

Anilin ist ein zentrales Vorprodukt für die Herstellung von Polyurethanen, die beispielsweise in Dämmungen von Gebäuden und Kühlgeräten Anwendung finden. In Kooperation mit dem CAT Catalytic Center der RTW Aachen und der Technologie-Transfer-Initiative der Universität Stuttgart entwickelte der Chemiekonzern Covestro mithilfe von Fördermitteln des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft eine Methode zur biobasierten Synthese des Polyurethan-Vorproduktes. 2024 konnte Covestro an seinem Standort in Leverkusen die weltweit erste Pilotanlage für biobasiertes Anilin in Betrieb nehmen. Dort wird Anilin erstmals mithilfe von industrieller Biotechnologie aus Zucker hergestellt, der aus rein pflanzlicher Biomasse gewonnen wird. Im ersten Schritt, der Fermentation, werden der Zuckerlösung Bakterien und Stickstoff zugefügt. Die Bakterienkultur erzeugt aus den Zuckermolekülen Benzolringe mit Ammonium-Gruppen. Anschließend folgt eine chemische Umwandlung in Anilin. Da für die Herstellung des Anilins auf diese Weise kein fossiler Rohstoff mehr gebraucht wird, geht das biobasierte Anilin mit deutlich geringeren Life-Cycle-Emissionen einher.

Ausblick

Auf dem Weg zur Klimaneutralität steht die Chemieindustrie vor tiefgreifenden Herausforderungen – wobei die größte in der Abkehr von ihrer bislang fossilen Wertschöpfungsbasis besteht. Die gute Nachricht: Es gibt zahlreiche Innovationen und Lösungen, die eine zukunftsfähige Chemie ermöglichen. Mit der im Koalitionsvertrag angekündigten Chemieagenda 2045 hat die Bundesregierung jetzt die Chance, die Weichen für eine nachhaltige, resiliente und international wettbewerbsfähige Branche zu stellen. Entscheidend ist, dass die Transformation zur Klimaneutralität dabei ins Zentrum rückt.

Daten zum Blogbeitrag

Veröffentlichung:
Autor:innen:
Meret Busch
Permalink: https://www.germanwatch.org/de/node/93223