Meldung | 22.02.2023

Ein Jahr lang Krieg in Europa

Russlands Überfall hat den Krieg gegen die Ukraine auf ein Niveau gehoben, wie es viele für Europa nicht für möglich gehalten hatten. Davon bedroht sind auch Leben und Freiheit unserer ukrainischen Partner:innen
Menschen auf einer Demonstration in Stockholm

Eine Frau zeigt ihr Plakat auf einer Demo in Stockholm. In vielen Orten gehen Menschen am 24. Februar 2023 als Zeichen der Solidarität auf die Straße.

Russlands unverdeckter Angriffs- und Eroberungskrieg gegen die Ukraine dauert nun bereits ein Jahr. Ein Jahr, das für die ukrainischen Partner:innen von Germanwatch – wie für die gesamte Ukraine – geprägt war von Angst, Wut, Schmerz und Trauer. Aber auch ein Jahr, in dem die Ukrainer:innen ihr Land beherzt militärisch verteidigt und die Welt aufgerüttelt haben.

Seit 2017 unterstützt Germanwatch die Menschen in der ostukrainischen Kohleregion Donbas* dabei, Lösungen für einen gerechten Strukturwandel zu entwickeln. In den vergangenen Jahren ging es insbesondere darum, ein Netzwerk zu knüpfen, das Vertreter:innen aus Kommunen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft an einen Tisch bringt. Mit dem Beginn des Angriffskriegs hat sich die Arbeit gewandelt: Unsere Partnerorganisation Alternativa und Ecoaction versuchen aktuell unter extremen Bedingungen, Informationen über die Situation vor Ort bereitzustellen. Gleichzeitig haben sie begonnen, an Plänen für einen grünen Wiederaufbau nach dem Krieg zu arbeiten. Germanwatch steht ihnen weiterhin zur Seite.

Zivilgesellschaft in Zeiten des Krieges

Am 24. Februar 2022 wird Valerij Novykov um vier Uhr morgens durch Raketeneinschläge geweckt. Russlands Luftwaffe fliegt damals Bombenangriffe auf Städte in allen unbesetzten Landesteilen der Ukraine. Russlands Streitkräfte rücken schnell in die Vorstädte von Charkiw und Kyjiw vor.

Am Mittag des 24. Februar schreibt Novykov aus der ukrainischen Hauptstadt eine einzeilige E-Mail an einen großen Verteiler: „Freunde, wir sagen natürlich die für März geplanten Veranstaltungen ab. Passen Sie auf sich und auf ihre Nächsten auf!“. Aus der wortkargen Nachricht sprechen Schock und Ungewissheit. Novykov arbeitet bei Alternativa, einer Menschenrechtsorganisation, die auch Expertise zum Kohlestrukturwandel entwickelt hat. Germanwatch arbeitet mit Alternativa seit 2018 eng zusammen.

Russlands Angriff führte bis jetzt zu mehr als 8 Millionen ukrainischen Flüchtlingen und wahrscheinlich zu zehntausenden Kriegsverbrechen, die überwiegende Mehrzahl davon wurde von Russlands Armee verübt. Besonders gut dokumentiert sind die Kriegsverbrechen von Butscha, einem Vorort der Hauptstadt Kyjiw. Dort ermordeten russische Streitkräfte – so der aktuelle Stand ukrainischer Ermittlungen – mehrere Hundert Zivilisten. In Butscha und anderen besetzten Orten folterten Angehörige russischer Dienste außerdem Männer im wehrfähigen Alter.

Nach den ukrainischen Siegen vor Kyjiw und Charkiw konzentriert die russische Armee ihre Eroberungsversuche auf den Donbas. Dort tobt seit April 2022 ein hartnäckiger Stellungskrieg. Zu den von Russland seit Februar 2022 im Donbas besetzten Städten gehören auch kleine Kohlestädte wie Kreminna, Lysytschansk und Girske. Noch bis zum 23. Februar 2022 haben Alternativa, Ecoaction und Germanwatch daran gearbeitet, diese drei Kohlestädte in der Region Luhansk in ein bestehendes Netzwerk zur Arbeit am Strukturwandel und Kohleausstieg zu integrieren. Doch solange die Besatzung andauert, ist es für uns nicht mehr möglich, in der Region Luhansk zu arbeiten.
 

Blick auf die Stadt Torezk in der Ukraine

Die Stadt Torezk liegt im Donbas und gehört zum Netzwerk der Kohlestädte, die beim Strukturwandel unterstützt werden sollen.

„Es mag komisch klingen“, erinnert sich Novykov, „Aber ich habe direkt mit Beginn des Krieges vor allem an die Arbeit gedacht und an Dinge, die wir mit Alternativa jetzt tun können. Ich war auch auf ein Leben unter Besatzung in Kyjiw vorbereitet. 2014 habe ich das schon einmal erlebt.“

Novykov ist Mitgründer von Alternativa. Die Gründung erfolgte 2013 in Altschewsk im Oblast Luhansk – als Oblast bezeichnet man ein Verwaltungsgebiet in der Ukraine –, wo Novykov Mitglied des Stadtrates war. Als 2014 von Russland unterstützte paramilitärische Gruppen die Kontrolle über einige Städte im Donbas gewannen, besetzten sie im April 2014 auch Altschewsk. Novykov floh einige Monate später. Das Kernteam der NGO, die ursprünglich gegründet wurde, um vor Ort in Altschewsk den Zugang der Menschen zu Sozialleistungen und einer sauberen Umwelt zu verbessern, siedelt nach Kyjiw über. „Die russische Invasion in die Ukraine begann für mich wie für viele Ostukrainer nicht erst am 24. Februar 2022, sondern bereits im Frühjahr 2014“, betont Novykov.

Inzwischen informiert Alternativa regelmäßig einen großen Verteiler über Menschenrechtsverletzungen oder über die Zerstörung von Energieinfrastruktur in den von Russland besetzten Gebieten, vor allem im Donbas. Die Bulletins der NGO sind besonders für internationale Entwicklungsorganisationen wie die U.S. Agency for International Development (USAID) oder die deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) eine wichtige Quelle.

„Unsere Arbeit ist noch relevanter geworden“

Ein weiterer zentraler Partner, mit dem Germanwatch am Kohlestrukturwandel in der Ukraine arbeitet, ist Ecoaction, die größte Umweltorganisation des Landes. „Alle Dinge, für die wir uns als Ecoaction sowieso immer schon eingesetzt haben, fühlen sich seit der Invasion noch relevanter an“, sagt Olha Tarasenko von Ecoaction. „Wir haben uns für bessere Wasserqualität und den Zugang zu Wasser eingesetzt. Und genau das ist jetzt ein immer dringenderes Problem, seit Russland Infrastruktur der öffentlichen Daseinsvorsorge wie zum Beispiel Staudämme beschießt. Wir haben uns für eine dezentralere Stromversorgung mit mehr Erneuerbaren eingesetzt. Eine dezentrale Stromversorgung ist weniger vulnerabel bei Raketenangriffen auf Kraftwerke und Umspannwerke, wenngleich auch ein dezentrales System ohne Raketenabwehrsysteme ungeschützt bleibt.“

Tarasenko beschreibt ihre Arbeitstage so: „Es ist nicht unüblich, dass ich von den Sirenen des Luftalarms und Push-Nachrichten auf meinem Handy geweckt werde, die mich auffordern, in einen Luftschutzbunker zu laufen. Ich habe mich auch daran gewöhnt, zum Knallen von Explosionen aufzuwachen.“ Bei Stromausfällen beginnt die Suche nach einem Arbeitsplatz: in den mit Generatoren ausgestatten Cafés oder Co-Working-Spaces oder in Shoppingmalls. An der Entwicklung von Ideen zur Energiewende arbeiten NGO-Mitarbeiter:innen zum Teil in den Tiefen der Kyjiwer Metro, die auch als Luftschutzbunker dienen. Dort gibt es neben Sicherheit auch Strom und eine Internetverbindung. Zwei der etwa 30 Mitarbeiter:innen von Ecoaction absolvieren aktuell ihren Wehrdienst bei der ukrainischen Armee. Hinzu kommen viele Mitglieder und Freiwillige, die jetzt für das ukrainische Militär kämpfen.

Russlands Offensive stellt die Entwicklung des Donbas vor große Fragezeichen

Seit 2018 haben Alternativa, Ecoaction und Germanwatch im Oblast Donezk den vom deutschen Entwicklungsministerium unterstützten Aufbau einer Plattform, die neun Stadtverwaltungen, die Industrie- und Handelskammer und mehrere lokale NGOs vernetzt, aktiv begleitet. Die Plattform entwickelt gemeinsame Strategien zum Kohleausstieg, etwa eine Strategie, um Arbeitsplätze außerhalb der Kohlewirtschaft zu schaffen. Sie hat sich auf ein gemeinsames Wirtschaftsförderungsprojekt verständigt. Und sie beteiligt sich aktiv an den Debatten zum Kohlestrukturwandel auf nationaler und europäischer Ebene. Dann kam der Krieg. Das gemeinsame Wirtschaftsförderungsprojekt musste auf Eis gelegt werden.

Der Vormarsch der russischen Armee bedeutet unmittelbare Lebensgefahr für die Stadtangestellten, mit denen Alternativa, Ecoaction und Germanwatch seit vielen Jahren am Strukturwandel arbeiten. „Meine Familie habe ich schon längst aus der Stadt weggeschickt. Meine Tochter wohnt jetzt in Deutschland“, erklärt eine Beamtin aus Pokrovsk. Die Hinrichtungen und Folterungen von Butscha bleiben auch ihr im Gedächtnis. „Wenn die Stadt besetzt werden würde“, sagt sie, „würde die russische Armee mich als städtische Beamtin wohl vernehmen und foltern, weil sie sich sensible Informationen von mir erhoffen. Ich habe mir mehrere Möglichkeiten zurechtgelegt, wie ich aus der Stadt fliehen könnte. Zur Not auch zu Fuß.“

„Es tut weh, dass die Städte, mit denen wir so viele Jahre eng zusammengearbeitet haben, nun ständig beschossen werden“, sagt Novykov. Große Teile der Bevölkerung haben auch den unbesetzten Teil des Oblast Donezk verlassen. Die regionale Wirtschaftsleistung ist laut Handelskammer um 80 Prozent eingebrochen. Am schwierigsten ist die Situation derzeit in Vuhledar. Vor den Toren der kleinen Bergarbeiterstadt tobt derzeit eine der grausamsten Schlachten. Nach Aussagen des ehemaligen Bürgermeisters Andrij Silytsch ist Vuhledar weitgehend zerstört.

Hoffnung auf einen grünen Wiederaufbau

Solange der Krieg andauert, kann die Arbeit am konkreten Strukturwandel nur in Teilen fortgesetzt werden. „Wir sind aktuell in einem Schwebezustand“, erklärt Novykov. „Die Strategien, die wir vor dem Krieg ausgearbeitet haben, ergeben vorerst keinen Sinn mehr. Wir wissen nicht, wie viele Städte noch zerstört werden und was genau die Bedarfe bei Ende des Krieges sein werden.“

Besuch von Ukrainer:innen im Bundestag

Eine Delegation aus dem Donbas besuchte 2022 den deutschen Bundestag. Dort trafen sie unter anderem den Bundestagsabgeordneten Anton Hofreiter.

Gemeinsam mit Germanwatch setzen Alternativa und Ecoaction die Arbeit in der Ukraine jedoch fort. Im November organisierten wir ein Treffen des Netzwerks mit Abgeordneten des Bundestages und mit der EU-Kommission, wo die Bürgermeister der Kohlestädte ihre Probleme vor Ort erläutern konnten. Wir stärken das Netzwerk der Kohlestädte, damit es sich wirkungsvoll in die Planungen zum Wiederaufbau des Landes einbringen und diese mit dem notwendigen Kohlestrukturwandel verbinden kann.

In der ganzen Ukraine wird es mit dem Kriegsende einen hohen Bedarf an neuer Infrastruktur geben – vom Ausland unterstützt. Für den Strukturwandel und eine mittelfristig bessere wirtschaftliche Zukunft der ukrainischen Kohleregionen steckt darin auch eine Chance.


Wie Sie helfen können

Wir empfehlen folgende Spendenmöglichkeiten für humanitäre Hilfe oder für die Unterstützung der Arbeit unserer etablierten Partnerorganisation Ecoaction:


Für unsere Arbeit mit den Partnerorganisationen in der Ukraine nehmen wir ebenfalls gerne Spenden entgegen:

  • Spenden an Germanwatch – Bitte ergänzen Sie im Feld „Nachricht“ das Stichwort „Strukturwandel Ukraine“

* In diesem Text verwenden wir die ukrainische Schreibweise Donbas (statt Donbass) und Kyjiw (statt Kiew).